Montag, 9. September 2013

Narben

Am Anfang der Woche präsentieren wir eine weitere Autorin, die Ihren Text beim Poetry Slam vorgetragen hat. Der Text hat eine sehr individualistisch-gesellschaftskritische Perspektive und man sollte  ihn mit einen gewissen Ernst lesen: Nicht immer ist das Leben lustig und leicht. Svenja Sophia Politt führt uns dieses eindrucksvoll mit ihrem Text vor Augen.

Narben

Du stehst vor dem Spiegel,
schaust hinein,
siehst dich selbst,
ohne den Schein,
der Andere trügt, wenn sie dich seh’n,
und nun beginnst du zu versteh’n,
siehst plötzlich die Narben,
die Narben, die du sonst verbirgst,
die jeder verbirgt, jeder von euch- und ich.
Die Abgründe,
die in jedem von uns in die Tiefe ragen,
geschützt von der äußeren Fassade,
die kein Fremder durchdringen kann,
stürzen wir nun selbst hinunter,
da wir an unsere Grenzen stoßen,
und im freien Fall sehen wir alles, was wir je
zum eigenen Vorteil
gegen jede Vernunft
ohne Berechtigung
und vor allem
zum Schaden anderer
getan haben…
Und wage es nicht, das zu leugenen,
denn jeder von uns trägt sie in sich- die Schuld.
Jeder von euch weiß genau, was ich sage,
weil jeder von euch schuldig ist…

Seht her,
endlich traut sich jemand,
euch anzuklagen, euch die Wahrheit ins Gesicht zu sagen…
Dieser Jemand bin ich.
Schlagartig fühle ich,
wie in euch eure Wut erwacht,
die Glut entfacht,
die euern Hass beschwört…
Aus den Tiefen eurer Abgründe kommt sie gekrochen,
sie schleicht sich in euer Denken ein, bis ihr von ihr besessen seid,
weil ich es wage-
Stop.
Bevor es so weit ist, bedenkt:
Auf wen solltet ihr wütend sein?
Auf mich, die euch die Augen öffnet?
Ich geb‘ euch die Chance,
euch selbst zu seh’n,
euch zu verbessern,
neue Wege zu geh’n-
und so dankt ihr mir das?
Ich sag‘ euch was
(Es ist ein guter Rat, und wenn ihr klug seid, hört ihr drauf):
Kehrt euren Hass gegen euch selbst,
verzweifelt daran, verliert den Halt,
stürzt euch eure Abgründe hinunter-
und seht eure Fehler, begreift sie,
probiert, das zu retten, was noch zu retten ist-
bevor es zu spät ist.

Und pass‘ in Zukunft auf,
denn nur so
kannst du weitere Narben vermeiden
und vermeiden,
dass die alten
wieder zu ausgewachsenen Wunden aufreißen,
dass die Schuld wie Blut
an euren Händen,
eurem Gesicht,
eurem Körper klebt…
und nie mehr abzuwaschen ist.

Du stehst vor dem Spiegel,
schaust hinein,
siehst dich selbst,
fängst an zu schrei’n-
weil du begreifst,
und dieses Begreifen ist schlimmer als
jeder Schmerz, jede Strafe, jede Folter,
denn nur du kannst es fühlen, dank mir…
Du begreifst,
dass du nicht der bist, der du zu sein glaubtest,
dass du dich selbst belogen, dich vor der hässlichen Wahrheit verschlossen hast-
und dass sie dir doch
die ganze Zeit bewusst war.
Du wusstest,
was du getan hast,
wen und wie du verletzt hast,
aber erst ich
habe dich vor den Spiegel gestellt,
weil du nie den Mut dazu hattest.

Sieh sie ein, deine Taten,
entschuldige dich, um nie mehr schuldig zu sein-
und sieh,
wie dein freier Fall endet,
wie der Boden näher kommt
und du aufschlägst-
ohne den Schmerz.
Fühle dein Herz
schlagen in deiner Brust,
nach so langer Zeit,
da sich endlich
dein Abgrund geschlossen hat.


September 2013

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