Sonntag, 7. November 2010

Q 3/4: Mensch, schneuze dich nicht!


Der Soziologe und Philosoph Norbert Elias widmet in seinem zweibändigen Hauptwerk „Über den Prozess der Zivilisation“ von 1939 ein Kapitel dem Thema der Nasenreinigung. Interessant, das so etwas ebenfalls unter der Überschrift „Ästhetik“ zu finden ist.

Das Taschentuch, so Elias, sei eine relativ junge Erfindung. Im Mittelalter hätten die Menschen zum Reinigen ihrer Nase die bloßen Hände verwendet. Eine Regel habe es bei Tisch allerdings schon gegeben: Die rechte Hand für die Speisen, die linke für das Schneuzen. Dabei seien aber rein pragmatische Gründe ausschlaggebend gewesen, wie z.B. das Verringern von Gesundheitsrisiken in Gesellschaft. Und dies habe auch nur bei Tisch gegolten. In Italien habe sich schließlich das Taschentuch als Instrument zur Befreiung der Nase etabliert. Neben der Unterdrückung eines natürlichen Triebes (das Schneuzen nämlich) habe sich das Taschentuch sogar zu einem Prestige-Objekt entwickelt. Doch jede Sitte bringt eine Unsitte mit sich und so habe sich die Angewohnheit entwickelt, nach dem Schneuzen das eigene Werk im Taschentuch zu betrachten. Nach Elias ist das Ausdruck des natürlichen Triebes, der sich so einen neuen Weg der Abfuhr sucht. Gerade bei Kindern zeige sich dieser archaische Trieb noch heute. Nun versteht Elias Sitte und ihr Gegenteil aber als Begriffe, deren Gegenstände sich immer auf die Mitmenschen beziehen. Es werde als Respektlosigkeit empfunden, einen Blick ins gebrauchte Taschentuch zu werfen. Das führe zu einem Schamgefühl, das einen Menschen vom Blick abhält. Erziehung versuche hier, Unsitten zu unterdrücken, indem sie als Konditionierungsmittel Hygiene und Moral miteinander gleichsetze und so Außenzwänge nach und nach zu Selbstzwängen umwandele. Der Zwang werde zum Automatismus und so schäme sich der Mensch sogar, wenn weit und breit kein Mitmensch anwesend sei, wenn er in sein gebrauchtes Taschentuch schaut.

Ein klassisches, freudsches Dilemma:
Die Sitte, als gesellschaftliche Norm, prägt das Über-Ich, das nun gegen das Es, das den natürlichen Trieb des Schneuzens durchzusetzen versucht, ankämpft. Im Normalfall gelingt es dem Ich einen Kompromiss zu finden. Immer häufiger jedoch, je stärker die Sitten Triebe zu verdrängen versuchen, flüchte das Ich sich in Neurosen. Denn die Sitten passten sich an die Unsitten an und umgekehrt, sodass eine immer stärkere Restriktion einer immer höheren Triebenergie gegenüber stehe. Wozu das führt, das sei eine wichtige Frage.

Wo aber liegt nun der Zusammenhang zwischen Elias' Thesen und unserem Thema Ästhetik?

Aus einem natürlichen Trieb wie dem Schneuzen wird in Gesellschaft zunächst eine Frage der Ethik. Dreck, der sich in der Nase ansammelt, ist oft gesundheitsschädlich. Und bei einem gesellschaftlichen Ereignis wie einer Tafelrunde, ist es allein schon sinnvoll, diesen Dreck von Berührungspunkten zwischen den Anwesenden fernzuhalten, um sich und andere zu schützen. Eine weitere rein pragmatische Überlegung mag zum Taschentuch geführt haben. In eine Hand zu schneuzen und mit der anderen zu essen ist so lange in Ordnung, bis man beide Hände für eine der beiden Tätigkeiten braucht. Ein Tuch, in das man die Sekrete entlässt, hilft also weiter. Das Taschentuch wird aber sofort zu einem Statussymbol, denn wer sich ein Tuch leisten kann, nur um darin Schleim zu sammeln, hat es offensichtlich geschafft. Darüber hinaus, im Kontrast zum Verwendungszweck, macht der Mensch sogar noch ein Schmuckstück daraus. Hier berühren sich also Ethik und Ästhetik, wenn auch unwillkürlich.

Ausgehend von Ludwig Wittgensteins Ausspruch „ Ästhetik und Ethik sind eins.“ (in: Tractatus logico-philosophicus, Satz 6.421) schauen wir uns Ethik und Ästhetik im Allgemeinen an. Und tatsächlich erkennen wir, dass sie einige Parallelen besitzen. Sowohl Ethik, als auch Ästhetik sind vom Kulturkreis abhängig und sie sind beide einem gewissen Zeitgeist unterworfen. Auch ihre Enstehung ist eng verwandt. Der Mensch ist darauf bedacht, und zwar triebhaft, das eigene Leben angenehm zu gestalten. Alles, was seinem Leben abträglich oder dem Angenehmen hinderlich ist, wird er zu meiden versuchen. Das Miteinander in Gemeinschaft erfordert gewisse Regeln, die Ethik, und wer das zusätzlich durch Schönes zu stützen vermag, der ist im Vorteil. Erstaunlich aber, das etwas so Natürliches, wie das Schneuzen, dafür herhalten muss.


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Formales:
Blogbeitrag von: Sören Meyer
Kurs: Q 3/4 pl1 und pl2
Datum: 04.11.10
Thema: Norbert Elias, Ästhetik, Über die ästhetische Wirkung des Schneuzens

3 Kommentare:

kroko_dok hat gesagt…

Ein persönliche Verweis auch:

http://spinken.blog.de/2010/11/04/oeffentlichkeit-scheissen-darf-9916675/

Muckraker hat gesagt…

wird oben eingefügt. oder darf ich den comic direkt einfügen?

kroko_dok hat gesagt…

Alles möglich. Alles gern gesehen. Danke